VIEWS by Marc-Uwe Kling

VIEWS by Marc-Uwe Kling

Autor:Marc-Uwe Kling [Kling, Marc-Uwe]
Die sprache: deu
Format: mobi, epub, azw3
Herausgeber: Ullstein eBooks
veröffentlicht: 2024-06-27T00:00:00+00:00


Die unfassbare Gleichzeitigkeit von allem

Es ist wieder Mittwoch. Vor einer Woche hatte sie ihr Date mit Stefan. Vor einer Woche hat sie das Video zum ersten Mal gesehen. Yasira liegt im Bett und will nicht aufstehen. Es ist diese unfassbare Gleichzeitigkeit von allem, die ihr zu schaffen macht. Die verschwundene Lena, die Sorge um ihre Tochter, um ihre Karriere, die Kriege, der Terror, der Wunsch, mal wieder Sex zu haben, Tinder-Stefans, der ermordete Tesfaye, die Klimakrise, ihr bescheuerter Ex-Mann, die glückliche Familie ihrer Schwester, überhübsche Influencerinnen, der Tote auf der Demo, Werbung für Müllermilch, Fentanyl, die Rückkehr des Faschismus, Minka auf Lenas Bett, der Aktive Heimatschutz, ihr möglicherweise heimlich schwuler Kollege, Frank Palmers Salanje, die Liebenden mit den Tüchern über dem Kopf, Töpfchen, die Lambada spielen, das Video. All das spukt ihr gleichzeitig im Kopf herum. Wie soll man da nicht verrückt werden? Sie zieht sich die Decke über den Kopf. Im Mittelalter, denkt sie, wäre ich schon tot.

Es ist die Musik aus dem Zimmer ihrer Tochter, die sie schließlich aus dem Bett holt. Yasira klopft an Zaras Tür und tritt dann ein, ohne ein »Herein!« abzuwarten. Das ist gar keine böse Absicht, nur Gewohnheit. Trotzdem wappnet sich Yasira schon innerlich für den Anschiss, den sie gleich bekommen wird, doch Zara sagt gar nichts dazu. Sie guckt nur, und Yasira muss besonders schlimm aussehen, denn ihre Tochter fühlt sich sogar genötigt, nach ihrem Wohlbefinden zu fragen.

»Du siehst richtig kacke aus«, sagt sie. »Alles klar?«

»Nein«, erwidert Yasira. »Im Gegenteil. Fast alles ist irgendwie unklar.«

Zara sitzt an ihrem Schreibtisch vor dem Schminkspiegel. In der Ladestation steckt ihr Handy, auf dessen Display sieht Yasira die verhasste Influencerin, nach deren Vorbild sich ihre Tochter stylt.

»Dein Fall ist ja wirklich krass«, sagt Zara. »Wie läuft es eigentlich?«

Yasira lässt sich auf Zaras Bett fallen und starrt an die Decke.

»Es läuft … schlecht«, sagt sie. »Wir haben noch nicht mal den Tatort gefunden.«

»Ist das denn so wichtig?«

»Na ja. Unsere Kriminaltechniker sind wirklich Weltklasse. Ehrlich. Es gab mal einen Fall, da wurde ein Mörder überführt, weil sie nachgewiesen haben, dass ein Blatt, das man im Kofferraum seines Autos gefunden hatte, nicht einfach nur ein Rotbuchenblatt war, nein, sie konnten sogar beweisen, dass es zu einer ganz bestimmten Rotbuche gehörte. Jener nämlich, unter der man die Leiche der Ehefrau des Verdächtigen gefunden hatte. Was ich damit sagen will, ist: Sobald wir Spuren von Opfer oder Täter haben, sind wir verdammt gut. Aber ohne Tatort keine Spuren. Keine Spur zu Lena, keine zu den Vergewaltigern.« Yasira seufzt.

»Ich hab dich in den Nachrichten gesehen«, sagt Zara.

»So?«

»Da sahst du auch schon ziemlich fertig aus.«

Yasira atmet tief ein und aus. »Danke.«

»Meine Güte! Bleib locker. No offense.«

Und das von Miss Touchy. Yasira verkneift sich eine Replik. Sie ist zu fertig zum Streiten.

Stattdessen blickt sie auf das Bild der Influencerin auf Zaras Handy.

»Wer ist das eigentlich?«

»Das ist Mila.«

»Spielt sie Volleyball?«

»Was?«

»Nichts. Neunziger-Humor.«

Zara verdreht die Augen.

»Was kann Mila denn?«, fragt ihre Mutter. »Ist sie Sängerin? Sportlerin? Schauspielerin?«

Zara lächelt.

»Nichts dergleichen.«

Zu meiner Zeit, denkt Yasira, da musste man noch was können, um berühmt zu … Aber dann bricht sie den Gedanken ab.



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